Fundamentaltheologie (2:127-141)

Und sie sprechen: ‚Werdet Juden oder Christen, damit ihr rechtgeleitet seid.‘ Sprich: ‚Nein; die Religion Abrahams, der den rechten Glauben bekannte und kein Götzendiener war (ist unsere Religion).“ (2:135)

Dem Menschen ist es ins Herz gelegt, die Grenzen des Körperlichen gedanklich zu überschreiten. Ein Beispiel: Bereits Grundschüler befassen sich mit einer Wirklichkeit, die es in der Natur nicht gibt, indem sie mit Zahlen rechnen. Das Konzept der Mathematik ist ein gedankliches. Äpfel kann man zählen, jedoch abstrahieren Zahlen die Zählbarkeit und schaffen eine Wirklichkeit, die es „draußen“ nicht gibt. Diese Wirklichkeit hat etwas mit der Zahl der Dinge gemein: immerhin liegen, wenn ich sieben und drei Äpfel nehme, zuletzt zehn Äpfel vor mir auf dem Tisch. Jedoch gilt „7+3=10“ unabhängig von allen Äpfeln, Stiften und Sonnen, die man zählen könnte. Sie gilt sogar auch dann, wenn es kein Subjekt mehr gibt, keinen Menschen, der sie denken könnte. Der Mensch denkt das sinnlich nicht erfahrbare.

Um sich die Welt des Nichterfahrbaren zueigen machen zu können, hat sich der Mensch Gedanken gemacht: sein Geist erschuf und erschafft Welten, Götter, Vorstellungen, Regeln, Ideen, Visionen. Und das ganz unabhängig davon, ob er nun religiös ist, oder nicht. Der Impuls, über das Nachweisbare hinaus zu denken, ist jedem Menschen gegeben.

Und damit die Frage, ob allem profan Seienden eine Wirklichkeit zu Grunde liege, die außerhalb derselben liege.

Diese Frage haben die Menschen in ihrer jeweiligen Zeit unterschiedlich beantwortet. Überall auf der Welt, zahlreiche Kulturen übergreifend, finden sich Schöpfungsmythen, die erzählten, wie die Welt entstand. Bei den Maori ebenso, wie bei amerikanischen Ureinwohnern, Kelten, Indern, Griechen und Römern, Inuit und Germanen.

Menschen, die in ihrer Zeit an ihrem Ort geboren werden, leben, und dort auch sterben, finden in den Mythen, Götter- und Schöpfungsgeschichten, in ihren Werten und Religionen die Möglichkeit, diese allem zu Grunde liegende Wirklichkeit zu reflektieren.

Unsere Wirklichkeit heute ist jedoch schwieriger. Wir werden zwar in eine Religion hineingeboren, werden vielleicht beschnitten, getauft, feiern unsere Bar/Bat Mitzwa, werden konfirmiert, unterziehen uns dem Upanayana oder feiern die Jugendweihe. Wir lernen religiöse Werte kennen. Wir lernen gesellschaftliche Werte kennen. Wir vergleichen, gleichen ab, finden – zwangsläufig – unseren eigenen Wertekanon, den wir vertreten.

Nahmen Menschen früherer Generationen schlicht die Religion und Weltanschauung ihrer Familien oder Gesellschaft an, so stehen wir heute einer ganz anderen Herausforderung gegenüber.

Statt in einer Welt der Religion, leben wir heute in einer Welt der Religionen.

Jeder einzelne ist gezwungen, sich zu entscheiden: Welche gesellschaftlichen Werte vertrete ich? Welche religiösen Werte? Sind beide Canones kompatibel? Passen zum Beispiel die Werte der Aufklärung, des Humanismus zu meiner religiösen Einstellung? Wie gehe ich mit Widersprüchen um?

Falls ich mich für eine Religion entscheide, ist die nächste Herausforderung der Umgang mit einem Widerspruch, dem sich jeder ausgeliefert sieht: „Meine“ Religion ist lediglich eine Religion in der Welt der Religionen. Einerseits erhebt sie den Anspruch auf Wahrheit. Andererseits steht sie im Diskurs mit anderen Religionen, die ebenso ihren Wahrheitsanspruch vertreten.

Dies ist im Übrigen auch die Herausforderung, wenn sich neue Religionen gründen bzw. gegründet werden. Oft sind diese auch Reformbewegungen aus einer Religion heraus. Wie das Christentum, was in seinen Ursprüngen eindeutig eine eine zutiefst frühjüdische Bewegung war und ist.

Die grundsätzliche Frage ist: Wie geht man mit einer Vielfalt an religiösen Vorstellungen um?

Der Umgang mit religiöser Vielfalt ist hier angesprochen. In der Theologie gab es früher das Fach „Apologetik“. Das griechische Wort apología bedeutet soviel wie ‚Verteidigung‘. Ziel der Apologetik war die Rechtfertigung des (christlichen) Glaubens mit Vernunftgründen vor dem Wahrheitsanspruch der anderen Religionen sowie einer nichtreligiösen Umwelt. Der Versuch, Gott mit Vernunftgründen zu beweisen, steckt ebenso dahinter, wie jener Versuch, andere Religionen mit Vernunftgründen zu widerlegen.

Letztlich sind die apologetischen Ansätze gescheitert. Keine Religion kann sich rein aus Vernunftgründen als wahr (Gottesbeweise), als einzig wahr (Offenbarungsbeweis) und als wahr im Gegensatz zu allen anderen Religionen (Widerlegung) erweisen.

Die Verse 2:127-141 befassen sich mit dem Thema der religiösen Vielfalt. Ein Satz begegnet uns hier, der auf den ersten Blick apologetisch wirkt: „Glauben sie demnach, was ihr glaubt, so sind sie rechtgeleitet. Wenden sie sich jedoch ab, dann sind sie Abtrünnige, und Allah wird dir gegen sie genügen; Er ist der Hörende, der Wissende“ (2:137). Der Zusammenhang zeigt jedoch, dass es um etwas ganz anderes, als Ablehnung und Widerlegung geht. Die gesamte Stelle ist hoch aktuell.

Jedoch: – Weder kann die Wahrheit der eigenen noch die Falschheit der anderen Weltreligionen bewiesen werden.

Deshalb gibt es in der aktuellen Theologie das Fach „Apologetik“ nicht mehr – es wurde abgelöst durch ein Fach, das den Namen ‚Fundamentaltheologie‘ trägt.

Die Fundamentaltheologie stellt sich allgemein die Frage, wie Religion grundsätzlich funktioniert. Dies nicht im Sinne der ‚Vergleichenden Religionswissenschaften‘, die die Religionen wie gesellschaftswissenschaftliche Phänomene analysieren. Vielmehr aus der Position einer Religion (und zwar bei uns der christlichen Religion) heraus. Der Blick geht dabei in zwei Richtungen:

1. Nach innen. Wie begründet sich und wie begründen wir eigentlich unser Christsein? Was macht uns und unsere Werte aus? Wie lassen sich unsere weltanschaulichen und Glaubensthemen zur Sprache bringen, vermitteln? Wie können wir mit Unterschieden im Glauben der Angehörigen unserer Religion umgehen? Wie kommen unsere menschliche Erfahrung, unser Wissen und unsere Werte einerseits sowie unsere Religion mit ihrer Offenbarung andererseits zusammen?

2. Nach außen. Was verbindet uns mit nichtreligiösen Menschen? Mit Gläubigen anderer Religionen? Was unterscheidet uns? Wie kommt es zu Unterschieden? Und wie können wir uns in der Vielfalt der Religionen positionieren?

Diese Fragen sind absolut relevant. Der Umgang mit religiöser Vielfalt wird insbesondere dann wichtig, wenn religiös motiviert Konflikte ausgetragen werden. Und die Antwort des Korans ist erfreulich aktuell.

Grundsätzlich gibt es zahlreiche Möglichkeiten, mit religiöser Vielfalt umzugehen. Zu nennen sind hier unter anderem der Fundamentalismus („Nur wir sind im Recht.“), die Vorstellung von religiöser Beliebigkeit („Alle Religionen haben irgendwie recht.“), der Agnostizismus („Ob Gott existiert und wie er existiert ist nicht nachzuweisen, darum mache ich mir keine Gedanken darüber.“), der Atheismus („Ich glaube nicht an die Existenz (eines) Gottes.“), der Synkretismus (Vermischung von Glaubensinhalten unterschiedlicher Religionen) innerhalb einer Religionsgemeinschaft oder als Privatreligion (individueller Synkretismus).

Die oben genannten Ansätze sind allesamt problematisch. Ihnen ist gemein, dass sie den Wahrheitsanspruch der Religionen nicht ernst nehmen.

Die Botschaft des Koran deutet einen Weg an, der damals wohl erfolgreich war, und sich heute sehr zeitgemäß liest und eine Alternative andeutet. Ausgangspunkt ist, wie wir gesehen haben (Beitrag Abraham) die Geschichte. Abraham und Ismael nahmen den Glauben an Gott an. Von Abraham ausgehend wird die Verheißung des Propheten Mohammed angedeutet. „Und als Abraham und Ismael die Grundmauern des Hauses legten, sprachen sie: ‚O unser Herr! Nimm es von uns an. Siehe, Du bist der Hörende, der Wissende. O unser Herr, mache uns Dir ergeben und aus unserer Nachkommenschaft eine Gemeinde Gottergebener. Und zeige uns unsere Riten und kehre Dich uns zu; denn siehe: Du bist der Vergebende, der Barmherzige. O unser Herr! Erwecke unter ihnen einen Gesandten, der ihnen Deine Botschaft verkündet und sie die Schrift und die Weisheit lehrt und sie reinigt; siehe, Du bist der Mächtige, der Weise.‘“ (2:127-129). Was auch zuvor schon den Koran auszeichnete, wird im folgenden offensichtlich: „Und wer, außer dem, der töricht ist, verschmäht die Religion Abrahams? Fürwahr, Wir wählten ihn in dieser Welt aus, und, wahrlich, im Jenseits gehört er zu den Rechtschaffenen. Als sein Herr zu ihm sprach: ‚Ergib Dich (Mir)!‘, sprach er: „Ich gebe mich völlig dem Herrn der Welten hin.“ Und Abraham legte es seinen Kinder ans Herz. Und Jakob (sprach:) ‚O meine Kinder! Siehe, Allah hat euch den Glauben erwählt; so sterbt nicht ohne Gottergebene zu sein.‘ Oder wart ihr Augenzeugen, als Jakob der Tod nahte? Da sprach er zu seinen Söhnen: ‚Was werdet ihr nach mir anbeten?‘ Sie sprachen: ‚Anbeten werden wir deinen Gott und den Gott deiner Väter Abraham und Ismael und Isaak, den einzigen Gott, und ihm sind wir völlig ergeben.‘ Jenes Volk ist nun Vergangenheit. Mit ihm wurde nach seinem Verdienst und mit euch wird nach euerem Verdienst verfahren. Und ihr werdet nicht für ihr Verhalten verantwortlich gemacht.“ (2:130-134)

Wodurch ist also der Umgang mit Pluralität gekennzeichnet? Was sagen diese Zeilen? Und was ist die Religion Abrahams? Sie ist Gottergebenheit und Anbetung des Einen Gottes, der sich den Vätern bereits geschichtlich offenbarte.

Religion äußert sich demnach nur in der Ausübung im Einhalten bestimmter Rituale und Glaubensformen, sondern in der persönlichen Haltung des Gläubigen. Gottergebenheit und Anbetung: das macht den Glauben aus. Und durch den Glauben an den Einen Gott, der sich Abraham offenbarte, wird man gläubig. Und darin sind dann Juden und Christen mit eingeschlossen.

Das relativiert nun gerade nicht das Individuelle und das Besondere an jeder einzelnen Religion, denn den Rahmen des Glaubens machen die religiösen Gebräuche, Gebote und Riten aus. Dazu aber an späterer Stelle mehr.

In der Literatur der deutschen Aufklärung ist Gotthold Ephraim Lessings Drama ‚Nathan der Weise‘ diesem Gedanken sehr nahe. Die Handlung spielt Ende des 12. Jahrhunderts, zur Zeit des 3. Kreuzzugs. Juden, Christen und Muslime stehen teils mit Argwohn, teils als Feinde, teils als Freunde einander gegenüber; zuletzt erweist sich, dass zwei Hauptpersonen – die jüdische Frau Recha und der christliche Tempelherr – die Kinder des muslimischen Bruders des Fürsten Saladin sind. Als Sinnbild für die Verwandtschaft der drei Religionen.


Maurycy Gottlieb - Recha begrüßt ihren Vater Nathan. Quelle: Wikipedia (gemeinfrei)


Maurycy Gottlieb – Recha begrüßt ihren Vater Nathan. Quelle: Wikipedia (gemeinfrei)


Der Adoptivvater der Recha, der Jude Nathan, erzählt dem Fürsten Saladin die sogenannte ‚Ringparabel‘: ein Vater – er steht für Gott – vererbt seinen drei Söhnen – den Gläubigen – drei goldene Ringe – die Religionen. Die Söhne zerstreiten sich, welcher von ihnen nun den echten Ring des Vaters übertragen bekommen habe. Nachdem die Brüder sich bekämpft haben, soll ein Richter entscheiden, welcher Sohn den originären Ring bekommen habe. Der Richtspruch lehrt die Brüder den rechten Umgang mit dem Konflikt: es gebe keine Möglichkeit, zu entscheiden, welcher Ring der wahre Ring des Vaters sei; womöglich sei er verloren, und der Vater habe für jeden der Brüder einen eigenen Ring gemacht. Neben dem Richtspruch mag aber ein Rat den Brüdern helfen:

Geht nur! – Mein Rat ist aber der: ihr nehmt
Die Sache völlig wie sie liegt. Hat von
Euch jeder seinen Ring von seinem Vater:
So glaube jeder sicher seinen Ring
Den echten. – Möglich; dass der Vater nun
Die Tyrannei des einen Rings nicht länger
In seinem Hause dulden wollen! – Und gewiss;
Dass er euch alle drei geliebt, und gleich
Geliebt: indem er zwei nicht drücken mögen,
Um einen zu begünstigen. – Wohlan! 
Es eifre jeder seiner unbestochnen
Von Vorurteilen freien Liebe nach!
Es strebe von euch jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag
Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
Mit innigster Ergebenheit in Gott
Zu Hilf‘! Und wenn sich dann der Steine Kräfte
Bei euern Kindes-Kindeskindern äußern:
So lad ich über tausend tausend Jahre
Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird
Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen
Als ich; und sprechen. Geht! – So sagte der
Bescheidne Richter.

(Lessing, Nathan der Weise, 3. Aufzug, 7. Auftritt)

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