Rückblickend auf den letzten Beitrag zur Gebetsrichtung halten wir fest: Der Blick richtet sich mit dem Gebet in Richtung Mekka, zur Kaaba. Wir haben in den Versen jedoch gelesen: Gott ist der Osten und der Westen. Man gelangt zu Gott nicht im Wettbewerb der Gebetsrichtungen, sondern im Wettbewerb der guten Taten.
Das Gebet ist, durch die Hinwendung nach Mekka, eine ganz kleine Wallfahrt, die man fünfmal am Tag vollzieht. Der Besuch von Mekka selbst ist damit der nächste Schritt. Der großen Pilgerfahrt, oder kleinen (der Umra) widmen sich die folgenden Verse.
Der größere Kontext – die Klammer, die an späterer Stelle geschlossen werden soll – wird sehr direkt, überraschend und ja, erschreckend, geöffnet. „Und sprecht von denen, die auf Allahs Pfad erschlagen wurden, nicht: ‚Sie sind tot.‘ Nein, sie sind lebendig. Doch ihr nehmt es nicht wahr.“ (2:154)
Dieser drastische Einstieg zeigt klar das Thema an: das Pilgern und die Gefahren des Pilgerns. Und wir werden sehen: das Wallfahren wird zum Bild für unser Leben ganz allgemein. Das „Wunder des Koran“, wie Muslime die Vielschichtigkeit, Interpretierbarkeit und Lebensnähe ihrer Offenbarung, nennen, wird in der folgenden Passage deutlich.
„Siehe, Safa und Marwa sind auch Kultstätten Allahs. Daher, wer immer zum Hause (Allahs) pilgert oder Umra [die kleine Pilgerfahrt] vollzieht, begeht kein Unrecht, wenn er zwischen beiden hin- und hergeht. (…)“ (2:158)
Es gibt zahlreiche Traditionen zu den beiden bei Mekka liegenden Hügeln.
(1.) Sie sind Kultstätten, an denen in vorislamischer Zeit heidnischen Göttern geopfert wurde.
(2.) Dann wird überliefert, dass Gott Adam auf dem Hügel Saffa und Eva auf dem Hügel Marwa erschuf.
(3.) Ferner sollen die Hügel zwei Pilger sein, die am Heiligtum Unzucht getrieben und deshalb ihr steinernes Ende dort gefunden haben.
(4.) Die Hadithen erzählen, dass der Prophet Mohammed dort selber gerastet und den Weg zwischen beiden Hügeln zurückgelegt haben soll.
(5.) Es war schon zu Zeiten von Mohammed und ist immer noch Pilgertradition, diesen Weg (siebenmal) eilend zurückzulegen.
(6.) Die schönste Überlieferung ist die von Hagar. Sie musste mit ihrem und Abrahams neugeborenen Sohn Ismael durch die Wüste ziehen. In ihrer Not legte sie ihr Kind ab, um alleine Wasser suchen zu können. So zog sie durch die Ebene, von dem einen Hügel zum anderen und wieder zurück. Siebenmal nahm sie den Weg auf sich, fand aber kein Wasser. Jedesmal, wenn sie an den Hügeln anlangte, erklomm sie sie, um von oben aus nach ihrem Kind schauen zu können. Als sie nach erfolgloser Suche zum weinenden Ismael zurückkehrte, wandte sich Gott den beiden zu. Das kleine Kind, Ismael, trat mit seinem Füßchen den Sand zur Seite; dort entsprang die Zamzam-Quelle, die immer noch fließt und besucht wird.
Auf dem Weg von Marwa nach Safa.
Aiman titi, Sa’yee To Go, cut, CC BY-SA 3.0.
Was wir sehen: die Traditionen sind so vielschichtig, dass schon zu Zeiten des Propheten die Frage, ob die Berge besucht werden sollten, sehr umstritten war. Im Koran wird hier nun das siebenmalige Zurücklegen des Wegs als Ritus bestätigt. Nun ist aber dieser Vers noch nicht abgeschlossen. Es folgt an dieser Stelle:
„(…) Wer aus freien Stücken Gutes tut, siehe, Allah ist dankbar und wissend.“ (2:158)
Ausdrücklich geht es also nicht mehr um die Pilgerfahrt nach Mekka, sondern darum, Gutes zu tun. In demselben Vers. Gutes zu tun, ist hin- und herzuziehen. Umzukehren. Zu eilen.
Damit wird die Pilgerfahrt zum Bild für das Leben an sich. Und zwar nicht in meiner sehr subjektiven Interpretation, sondern ganz ausdrücklich und direkt. Und ganz deutlich ist ferner gesagt: der Lebensweg ist nicht gerade. Es ist ein hin- und her. Und ein stetiges Umkehren. Das Leben ist schwierig. Nicht jede Suche ist einfach. Der richtige Weg ist nicht gerade, sondern von stetigem Umkehren geprägt. Das ist der Weg der ‚Standhaften‘.
Und nun greifen wir wieder den Anfang auf: die auf Gottes Pfad erschlagenen, die lebendig sind, und nicht tot. Vor dem Hintergrund sind nun die ersten Verse dieses Abschnitts, die uns zunächst sehr fremd scheinen mögen, völlig verständlich:
„Und sprecht von denen, die auf Allahs Pfad erschlagen wurden, nicht: ‚Sie sind tot.‘ Nein. Sie sind lebendig, doch ihr nehmt es nicht wahr. Und wahrlich. Wir werden euch mit Furcht prüfen sowie mit Hunger und Verlust an Besitz und Menschenleben und Früchten; doch verkünde den Standhaften heil. Ihnen, die da sprechen, wenn sie ein Unheil trifft: ‚Siehe, wir gehören Allah, und zu ihm kehren wir heim.‘ Segnungen über sie von ihrem Herrn und Barmherzigkeit! Sie sind die rechtgeleiteten. Siehe, Safa und Marwa sind auch Kultstätten Allahs. Daher, wer immer zum Hause (Allahs) pilgert oder Umra [die kleine Pilgerfahrt] vollzieht, begeht kein Unrecht, wenn er zwischen beiden hin- und hergeht. Wer aus freien Stücken Gutes tut, siehe, Allah ist dankbar und wissend.“ (2:154-158)
Zwischen Safa und Marwa hin- und hergehen. Eine Kollegin spricht immer so treffend von „situativer Wendigkeit“. Diese Formel klingt nach „sein Fähnchen nach dem Wind“ zu richten, nach Prinzipienlosigkeit. Sie meint aber das genaue Gegenteil. Denn wenn die Wege auch verschlungen sind, von Safa nach Marwa nach Safa nach Marwa führen, die Grundrichtung ist nicht verhandelbar: auf Gottes Pfad zu gehen (2:154), Gott zu gehören (2:156) und darin standhaft zu sein (2:155). Und für das Handeln bedeutet es nur eines: Gutes zu tun. (2:158)
So ist der Weg und die Herausforderung für die Gläubigen benannt; nun wird wieder einmal der Gegenentwurf gezeichnet. Ungläubig, das sind die, die eben nicht auf Gottes Pfaden gehen. Die nicht standhaft sind. Und vor allem die, die sich nicht darin üben, auf den vielen Wegen der Umkehr, Gutes zu tun.
Ausdrücklich geht das Angebot, auf Gottes Wegen standhaft das Gute zu tun, auch an die ‚Menschen in der Schrift‘ (also Juden und Christen). Nur, wenn sie ihre Schrift verraten, stehen sie außerhalb der Ordnung: „Siehe, die etwas von dem verbergen, was Wir an deutlicher Botschaft und Leitung herabsandten, nach dem, was Wir den Menschen in der Schrift bereits deutlich mitgeteilt hatten: verfluchen wird sie Allah, und verfluchen werden sie die Fluchenden. Außer denen, die umkehren und sich bessern und dies klar bekennen. Ihnen wende Ich mich zu; denn Ich bin der Vergebende, der Barmherzige. Siehe, wer ungläubig ist und als Ungläubiger stirbt, auf ihnen lastet der Fluch Allahs und der Engel und der Menschen insgesamt. Ewig verweilen sie darin; die Strafe wird ihnen nicht erleichtert, und es wird ihnen kein Aufschub gewährt.“ (2:159-162)
Im Kontext völlig eindeutig ist das eben kein Fluch gegen Juden und Christen, sondern ein Fluch gegen jene, die ungläubig werden, indem sie ihre Offenbarung verleugnen, „die etwas von dem verbergen, was Wir an deutlicher Botschaft und Leitung herabsandten.“ (2:159)
Damit schließt die Klammer. Die einen sind die, die auf Gottes Weg erschlagen werden, aber lebendig sind. Auf der anderen Seite diejenigen, die nicht Gutes tun und auf Gottes Wegen gehen, sondern ihre Offenbarung verbergen. Sie werden nicht erschlagen, sind aber verflucht.
Zusammenfassend kann man festhalten: Mit dem Weg ist dreierlei gemeint:
(1.) Der Weg der Wallfahrer, die siebenmal eilend von einem zum anderen Felsen gehen.
(2.) Dann der Lebensweg, der hin- und her und oftmals in die Irre führt. Der aber dadurch, dass man das Gute tut, dennoch zum Ziel führt.
(3.) Der Weg, der letztendlich in die Vollendung, das Leben nach dem Tod, führt.
Abschließend wird noch einmal in einer wunderbaren Wendung ganz eindeutig vermittelt, dass auch Juden und Christen als Anders- aber nicht Ungläubige, in diesen Weg, das Gute zu tun, eingebunden sind.
„Und euer Gott ist ein einziger Gott; es gibt keinen Gott außer ihm, dem Erbarmer, dem Barmherzigen.“ (2:163) Es handelt sich um eine Form des muslimischen Glaubensbekenntnisses, der Schahada.
Das bemerkenswerte ist dabei, dass es ohne Bekenntnis zu Mohammed als dem Propheten Gottes formuliert ist. Nichts am Koran ist zufällig. Und diese Wendung lädt jede Jüdin und jeden Juden und auch mich als Christ ein, die Worte mitzusprechen. Keine Ausgrenzung oder Abgrenzung zwischen den Religionen, sondern eine explizite Einbindung.
Und um den Kontext des Abschnitts davor noch einmal aufzugreifen: Der Wettstreit, in dem Juden, Christen und Muslime stehen, ist keiner bezüglich der Gebetsrichtung, sondern alleine ein Wettstreit darin, Gutes zu tun und auf Gottes Wegen zu gehen.
Nehmen wir also die Challenge an! Tun wir das Gute und lassen das Böse! Es kann uns passieren, dass wir vielleicht sieben- oder siebzigmal zwischen Safa und Marwa hin- und hergetrieben werden. Am Ende dieser Challenge gibt es aber nur Gewinner und keine Verlierer!
Der Berg Safa.
Swerveut (talk), Mount Safa Mecca, CC BY-SA 3.0.