Wie uns Gott beschenkt
Im Christentum sind Dankgebete vor (oder nach) den Mahlzeiten sehr verbreitet. Wir danken Gott dafür, dass wir an diesem Tag satt werden und dass er uns mit dem versorgt, was wir brauchen. So beten die Mönche meines Benediktinerordens mit den Worten des Psalmisten: „Aller (Menschen) Augen warten auf Dich, o Herr. Du gibst ihnen Speise zur rechten Zeit.“ Der Psalm fährt fort: „Du tust Deine milde Hand auf und sättigst alles, was da lebt, mit Wohlgefallen.“
In unserem wichtigsten Gebet, der „Fatiha“ des Christentums, das wir nach seinen ersten Wörtern das „Vaterunser“ nennen, heißt es: Unser tägliches Brot gib uns heute“. Wir verdanken Gott unser Brot.
Nun könnte jemand sehr plump einwenden, bei dem von Gott gegebenen Brot handele es sich gar nicht um Brot, sondern um ein Brötchen. Und es sei auch nicht ein Brötchen, sondern (bei uns morgens) sechs sehr unterschiedliche: zwei „Knackfrische“, zwei „Backhus-Semmeln“, ein Sesambrötchen und ein Laugencroissant. Und die habe auch nicht Gott, sondern der Bäcker gebacken. Unterschiedlich in Form, Farbe und Geschmack: jedes ein Meisterwerk von Bäckerhand.
Also: statt des Dankgebets nun eine nette E-Mail an den Bäcker. Gott gebührt kein Dank?!
Natürlich ist unser Essen Gott verdankt. Er hat Pflanzen und Tiere erschaffen und segnet uns Mitteleuropäer sehr freizügig mit Regen, welcher der eigentliche Grund für den Reichtum der westlichen Welt ist. Er lässt das Korn wachsen; dies ist unsere Speise. Klar, auch die Sonntagsbrötchen in ihrer ganzen Unterschiedenheit verdanken wir letztendlich Gott.
Offenbarung
Ein wenig so ist unser Verständnis der Offenbarung und der Heiligen Schrift. Gott offenbart sich den menschlichen Autoren in seiner eigenen, ganz unmittelbaren Sprache, die keiner Wörter bedarf und in Worten nicht fassbar ist. Ebenso, wie wir die Gaben Gottes für eine gute Ernte – den Ackerboden, ein günstiges Wetter und vieles mehr – nicht essen kann, sondern darauf warten muss, dass der Bäcker mit den Brötchen aufwartet, ebenso ist die Offenbarung Gottes durch den, der sie erfahren hat, unmittelbar nicht möglich. Sie muss in Worte – und damit in Wörter – gefasst werden.
Die biblischen Autoren schreiben in ihrer Sprache – dem Hebräischen, Aramäischen und Griechischen ihrer Zeit – von ihrer Gotteserfahrung. Damit ist dies originäre Wort Gottes nicht nur innerhalb der Grenzen der jeweiligen Sprache, sondern auch in der grundsätzlichen Begrenztheit unseres Denkens in der Schrift gebunden. Ebenso, wie der Bäcker Brot und Brötchen nur in den Grenzen dessen verwirklichen kann, was die Zutaten und seine Fähigkeiten hergeben.
Offenbarung ist für uns Christen kein wörtliches Einflüstern („Verbalinspiration“), sondern Gotteserfahrung, die in den Worten und den Denkweisen konkreter einzelner Menschen Ausdruck findet. Und so unterschiedlich die einzelnen Autoren sind, so unterschiedlich inAnsatz, Aussage und Form sind auch die Texte. Der Theologe Karl Rahner prägte den Begriff „Gotteswort in Menschenwort“.
Diese menschliche Komponente streitet kein ernstzunehmender Christ mehr ab: das Wort Gottes ist bunt, gebrochen, zuweilen widersprüchlich und äußerst komplex. Und doch: die Wirklichkeit Gottes strahlt aus der Schrift hervor, die – nicht obwohl, sondern gerade weil sie den Weg in Sprache gefunden hat – von uns als originäres Wort Gottes bekannt wird.
Von der Analyse zur Interpretation
Die im vorangehenden Beitrag erwähnte „historisch-kritische Analyse“ befasst sich mit den sprachlichen und thematischen Brüchen, rekonstruiert den biblischen Text, nimmt ihn auseinander und erklärt, wie die verschiedenen Impulse zueinander gefunden haben. Dies ist ganz entscheidend für die Interpretation. Und hier geht es dann im letzten Schritt um eine Suche: die Suche nach der Botschaft Gottes, und es liegt auf der Hand, dass dieser letzte Schritt weder trivial noch eindeutig ist.
Auf den ersten Blick mag das als „Schwäche“ der Schrift wahrgenommen werden, tatsächlich macht gerade dies für uns Christen die Stärke des Wortes Gottes aus. Die Grundbotschaft für uns:
Es gibt keine Patentrezepte. Glaube ist stets eine Suche Gottes. Ein persönlicher Weg, geleitet und begleitet durch Gottes Offenbarung, die uns zugleich Anspruch ist. Es gibt keinen festen Regelkanon, den man einfach befolgen kann, um zu Gott zu gelangen. Unsere persönlichen Entscheidungen sind gefordert, die wir in unserer komplexen Welt nicht an Gott und sein wortwörtliches Wort delegieren können.
(Wird fortgesetzt.)
Was mich interessiert:
Der Koran ist im Vergleich zur Bibel sehr einheitlich. Und – so habe ich gelesen – von unglaublicher sprachlicher Schönheit. Allerdings gibt es doch auch an der einen oder anderen Stelle unterschiedliche Tendenzen in der Aussage oder Verse, die nicht selbsterklärend sind, und bei denen man auf eine Interpretation angewiesen ist. Meine Frage an die Muslime:
Gibt es auch einen menschlichen Anteil im Koran? Wie stellt Ihr Euch die wörtliche Inspiration des Propheten durch den Erzengel vor?