„O ihr Kinder Israels! Gedenkt meiner Gnade, mit der Ich euch begnadete, und haltet euer Versprechen. Mir gegenüber, dann will auch Ich halten, was Ich euch verheißen habe. Mich allein sollt ihr ehren. Und glaubt an das, was ich zur Bestätigung eurer Schrift herabsandte, und seid nicht die ersten, die es leugnen, und verkauft nicht meine Botschaft für einen winzigen Preis. Mich allein sollt ihr fürchten.“ (2:40-41)
Der gleiche Aufbau dieser beiden Verse zeigt: sie bilden eine Einheit und leiten einen neuen Gedanken ein. Dies ist insofern bedeutend, als dass ansonsten das Folgende missverständlich wäre.
Worum geht es also? – Nicht um einen Bund des Volkes mit Gott, aber um nicht viel weniger: Um ein Versprechen der Gläubigen Israels gegenüber Gott und die ungebrochene Verheißung an das Volk Israels. Die Botschaft: „Mich allein sollt ihr ehren.“
Worum geht es? – Nicht um eine „Absetzung“ der (Hl.) Schrift handelt es sich bei der koranischen Offenbarung, sondern im Gegenteil: um die Bestätigung der Schrift. Die Botschaft: „Mich allein sollt ihr fürchten“.
Der Zusammenhang mit den folgenden Beispielen in den Versen 2:49-61 zeigt deutlich, dass die Weisung „und seid nicht die ersten, die es leugnen, und verkauft nicht meine Botschaft für einen winzigen Preis“ keine Aufforderung ist, vom Judentum zu konvertieren, sondern genau das Gegenteil: die Bestätigung der Gnade, die Gott allen Gläubigen zukommen lässt. Denn: in der Treue zum Glauben an Gott tut man recht. Der Koran greift in den folgenden Bildern ein altes biblisches Motiv auf: das Volk Gottes, das in der Gnade Gottes lebt, sich von Gott abwendet, dafür Strafe erfährt und zugleich eine Rechtleitung durch Wunder und Propheten Gottes, sich bekehrt und Vergebung erfährt.
Wer hierin eine fortwährende Verunglimpfung des Judentums sieht, verkennt, dass es sich in dieser Schilderung um ein zutiefst biblisches Bild handelt und neben einer Interpretation der Geschichte des Volkes Gottes auch dies ist: ein Bild für die menschliche Verfasstheit insgesamt: hin- und hergerissen zwischen Glaube und Unglaube, Tugend und Laster, Hinwendung und Abkehr, guter Tat und Sünde.
Worin besteht die Treue zu Gott für in diesem weiten Sinne alle Gottgläubigen? – Dies verdeutlicht noch einmal die vorgeschobene Weisung:
„Und kleidet nicht die Wahrheit in Lüge, und verbergt nicht die Wahrheit wider Wissen. Und verrichtet das Gebet und entrichtet die Steuer und beugt euch mit den Beugenden (im Gebet). Wollt ihr (Juden) den Leuten Frömmigkeit gebieten und eure eigenen Seelen vergessen, wo ihr doch die Schrift (Thora) lest? Habt ihr denn keine Einsicht? Und nehmt eure Zuflucht zur Geduld und zum Gebet. Siehe, dies ist fürwahr schwer, außer für die Demütigen, die da glauben, dass sie ihrem Herrn begegnen und dass sie zu ihm heimkehren werden. O ihr Kinder Israels! Gedenkt meiner Gnade, mit der ich euch begnadete, und dass ich euch vor aller Welt bevorzugte. Und fürchtet einen Tag, an dem von ihr weder Fürsprache noch Lösegeld angenommen und ihnen nicht geholfen wird.“ (2:42-48)
Wir haben am Anfang der Sure das Paradigma für den sündigen Menschen kennengelernt: der Unruhestifter, der Gott auf der Zunge und die Pläne seiner eigenen Dämonen im Herzen trägt.
Nun also der große Gegenentwurf hierzu: Gebet, Demut und Rechtschaffenheit („Steuer“) als die Grundmerkmale des Glaubenden. Welch eine großartige Option.
Demut. Der Gründer meines Ordens, der Hl. Benedikt, hat die Demut zur ersten und bedeutendsten Wegmarke zu einem Leben in Liebe gemacht. Der Unruhestifter sieht nur sich selbst. Der Demütige nimmt sich selbst zurück, und je kleiner er sich selbst macht, umso mehr gibt er Gott Raum, sich durch ihn zu offenbaren. Und somit beginnt die Regel des Hl. Benedikt mit der schlichten Weisung: „Höre!“. Und „Höre!“: das ist zugleich die Grundtugend des Gebets.
Gebet und Demut: sie gehören unweigerlich zusammen. Und beides steht im Zentrum auch der Botschaft Jesu. Wer sind bei Jesus die Größten? Die Größten, das sind bei ihm die Kinder („Amen, das sage ich euch: Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen. Wer so klein sein kann wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Größte.“ Mt 18,3-4). Und jene, die den anderen Diener sind („Der Größte von euch soll euer Diener sein. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“ Mt 23,12)
Ein wunderschöner Gegenentwurf zum westlichen Denken, das die Herren zu den Größten macht. Ich bin persönlich sehr bewegt durch die Tatsache, dass gerade die Demut Grundtugend auch des Koran ist. Es mag wie ein Paradox klingen, aber: wer die Demut in sich trägt, der zeichnet sich durch eine ganz besondere Stärke und Würde aus. Nicht die Lauten setzen sich letztendlich durch, nicht die, die ihre persönliche Wahrheit in die Welt brüllen, sondern die Stillen, die zuerst einmal hörende, suchende sind, und dann auch etwas mitzuteilen haben. Die Reiche der Mächtigen: sie zerfallen wie Staub (zumeist bereits zu Lebzeiten der Mächtigen!) und die Wahrheit der Philosophen und Propheten, sie bleibt bestehen und der Wunsch nach Ruhe und Frieden, dieser Wunsch der vielen „einfachen“ Menschen, er setzt sich langfristig durch.
Dass die Interpretation dieser Perikope bezüglich der Kontinuität des gemeinsamen jüdischen, christlichen und islamischen Glaubens an den einen Schöpfergott eindeutig koranisch ist, zeigt nun der Vers, der diesen Erzählkranz abschließt.
„Siehe, die da glauben – auch die Juden und die Christen und die Sabäer – wer immer an Allah glaubt und an den jüngsten Tag und das Rechte tut, die haben ihren Lohn bei ihrem Herrn. Keine Furcht kommt über sie und sie werden nicht traurig sein.“ (2:62)
In meiner katholischen Kirche ist in zentralen Dokumenten die Kontinuität der drei Religionen Judentum, Christentum, Islam (histor. Reihenfolge) betont und der gemeinsame Glaube an den Einen Gott.
Meine Frage an mitlesende Muslime und Juden: Seht Ihr diese Kontinuität auch, und wo würdet Ihr die Grenzen zwischen den Religionen ziehen?
Und an die Mitchristen auch anderer Konfessionen: Wie ist in Eurer Kirche das Verhältnis zu Judentum und Islam definiert?
@alle: Wie steht Ihr zur Demut? – Ist es nicht völlig quer, diese Tugend hochzuhalten? – Schließt sie nicht sogar ein selbstbewusstes Leben aus?
@alle: Natürlich freue ich mich über alle anderen Impulse, Fragen und Kritikpunkte!