„Und fürchtet einen Tag, an dem keine Seele für eine andere etwas bewirken kann: an dem von ihr weder Fürsprache noch Lösegeld angenommen und ihnen nicht geholfen wird.“ (2:48)
Ein guter Gedanke: am Tag des Gerichts wird jeder Mensch nur und allein nach seinem Glauben und seinen Taten „gerichtet“; keine Fürsprache seitens anderer kann da Rettung bewirken. Eine Forderung der Gerechtigkeit.
Vor der Ferienpause ging es im Blog um die Frage nach dem Leid Jesu am Kreuz (Beitrag Hölle [2], http://www.christ-koran.de/holle-2/ ). Und hier versprach ich noch einen Beitrag zum Stellvertretungsgedanken, wie er vom Theologen Hans Urs von Balthasar aufgegriffen wird. Und auch, wenn dieser schwierige Stoff mich und alle Leser noch einmal fordert, will ich damit diesen Zyklus der theologischen Gräben zwischen Islam und Christentum von meiner christlichen Seite her schließen: die grundlegend trennenden theologischen Bilder und Themen wären nämlich aus meiner christlichen Sicht damit abgeschlossen: Alle weiteren Differenzen – so meine Überzeugung nach der Lektüre des Korans – trennt den Glauben an den Einen Gott in der muslimischen und christlichen Ausprägung nicht mehr unüberbrückbar.
All dies hier auch noch einmal vor dem Hintergrund der Unmöglichkeit, mit Sprache die Wirklichkeit Gottes zu erfassen. Es ist nicht die Wirklichkeit Gottes in ihrer Fülle, sondern es sind Bilder von Gott, die wir uns in unserer Sprache und unserem begrenzten Denkvermögen machen. Die hinter unseren Bildern stehende Wirklichkeit Gottes ist möglicherweise – und davon bin ich überzeugt – groß genug, die Differenzen unserer Vorstellungen letztendlich zu überbrücken (vgl hierzu Beitrag Der hundertste Name Allahs: http://www.christ-koran.de/der-hundertste-name-allahs/ ). Bevor wir im nächsten Beitrag also die Kontinuität zwischen den drei Religionen Judentum, Christentum und Islam in den Blick nehmen, kommen wir nun aber zunächst noch einmal zum letzten Schritt unseres Reigens, dem christlichen Gedanken der „Stellvertretung“.
„Stellvertretung“ deutet sich im Alten Testament in den Gottesknechtsliedern des Jesajabuchs an. Hier wird in prophetisch-visionärem Stil eine Person gezeichnet, der „Knecht Gottes, der, von Gott dazu berufen, das Leiden für die Schuld der Menschheit auf sich nimmt und trägt: „Seht, mein Knecht hat Erfolg, er wird groß sein und hoch erhaben. Viele haben sich über ihn entsetzt, so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch, seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen. […] Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet; wir schätzten ihn nicht. Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt. […] Nachdem er so vieles ertrug, erblickt er das Licht. Er sättigt sich an Erkenntnis. Mein Knecht, der gerechte, macht die vielen gerecht; er lädt ihre Schuld auf sich. Deshalb gebe ich ihm seinen Anteil unter den Großen, und mit den Mächtigen teilt er die Beute, weil er sein Leben dem Tod preisgab und sich unter die Verbrecher rechnen ließ. Denn er trug die Sünden von vielen und trat für die Schuldigen ein.“ (Jes. 52, 13-14; 53, 4-5, 11-12)
Der Mensch Jesus ist es für uns Christen, der diese Prophezeihung erfüllt, der das Leiden der Welt, das durch die Sünde verursacht wird, im Leiden am Kreuz auf sich nimmt. Aber nicht nur das:
Als Christus zum Gelähmten sprach „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“ (Mk. 2,5), da ärgerten sich die Pharisäer: „Wer kann Sünden vergeben, außer dem Einen Gott?“. Dem pflichtet von Balthasar bei: Gott allein, aber so, dass er zugleich diese Sünden übernimmt und für sie büßt.“ (v. Balthasar, Stellvertretung: Schlüsselwort christlichen Lebens, Freiburg 1976, S. 5)
Dass dieser Art Übernahme keine platte ‚Satisfaktion Gottes‘, Genugtuung, Besänftigung, sein kann, liegt auf der Hand. Diese wäre das in Sure 2:48 erwähnte „Lösegeld“. Sie ist aber ebensowenig bloß ein Symbol für den Versöhnungswillen Gottes, sondern der „Akt der Versöhnung selbst“ (v. Balthasar, Pneuma und Institution, Einsiedeln 1974, S. 401)
Das Leid wurde demnach nicht relativierend aufgehoben oder, im anderen Extrem, verherrlicht, sondern in seinem ganzen Ernst unterfasst. Dieser Anprall der Liebe Gottes auf die immer wieder neues Leid schaffende Sünde deutet bereits die Konsequenz hieraus an: das Leiden Christi ist inklusiv: es umschließt das menschliche Leiden und schließt es in sich ein. Die Aussage Christi, wer sein Jünger sein wolle „nehme sein Kreuz auf sich und folge [ihm] nach“ (Mt. 16,24) gewinnt so ihren eigentlichen Inhalt: die Schreie der Leidenden sind zugleich der Schrei Jesu am Kreuz.
Da der Heilswillen Gottes die gesamte Schöpfung umfasst, weist von Balthasar darauf hin, dass jedes menschliche Leid in Christi Leiden mit einbehalten ist. Und zwar ausdrücklich das Leid aller Menschen: Gott ist nach unserer Auffassung keineswegs apathisch einerseits oder – im Gegenteil – rachsüchtig und Leid verursachend oder fordernd. Die Unendlichkeit und Unbegrenztheit Gottes macht nicht einmal vor der menschlichen Begrenztheit halt; der Hiatus zwischen begrenztem Geschöpf und unbegrenztem Gott hebt sich auf: Gott wäre nicht unbegrenzt, wenn er eine Grenze darin fände, dass es ihm verwehrt sei, selbst Geschöpflichkeit zu erfahren.
Ein Vorurteil ist die Vorstellung, das Christentum vertrete eine satisfaktorische Theologie: ein rachsüchtiger Gott, erzürnt durch die Erbsünde eines historischen Menschen Adam, entzog dem gesamten Menschengeschlecht seine Gnade. Und dann, um Wiedergutmachung zu fordern, wurde er Mensch, um durch das Blutopfer seiner selbst, befriedigt zu sein und den Menschen deshalb wieder Erlösung zuteil werden zu lassen. Dieses Bild ist in Bezug auf das Gottesbild (vgl. Beitrag Der eine Gott (2:38): http://www.christ-koran.de/der-eine-gott-238/ ), in Bezug auf die heilsgeschichtliche (vgl. Beitrag „Hölle (2:39)“: http://www.christ-koran.de/holle-239/ ) und in Bezug auf die christologische Dimension (vgl. Beitrag Der Eine Gott (3): http://www.christ-koran.de/der-eine-gott-3/) problematisch. Außerdem missinterpretiert dieses Zerrbild die Vorstellung der Erbsünde (vgl. Beitrag Die Sünde Adams: http://www.christ-koran.de/die-sunde-adams-die-vergebung-gottes-237-38/).
Natürlich wird ein solcher Gedanke im Koran abgelehnt, aber auch der im oben skizzierten Verständnis zu Grunde gelegte Stellvertretungsgedanke wird abgelehnt. Und auch hier beneide ich die Muslime ein wenig: Die koranische Vorstellung ist um so vieles – im besten Sinne – einfacher: Gott ist unbegrenzt und deshalb eben kein Geschöpf. Für mich persönlich ist dieser zu seinem Geschöpf hin offene Schöpfer, der nicht statisch einfach seiende, sondern an seiner Schöpfung Anteil nehmende Gott, der in sich ruhende und dennoch geschichtlich wirkende Gott – für mich ist er der Gott, zu dem ich beten kann.