„Und als Mose zu seinem Volk sprach: ‚Siehe, Allah gebietet euch, eine Kuh zu opfern‘, sagten sie: ‚Treibst du Spott mit uns?‘ Da sprach er: ‚Da sei Gott vor, dass ich einer in Unwissenheit wäre.‘ Sie sprachen: ‚Bitte deinen Herrn für uns, uns zu erklären, was für eine Kuh es sein soll.‘ Er sagte: ‚Siehe, Er spricht, es sei eine Kuh, weder alt noch ein Kalb; in mittlerem Alter zwischen beidem. Und nun tut, was euch geboten ist!‘ Sie sagten: ‚Bitte deinen Herrn für uns, uns zu erklären, von welcher Farbe sie sein soll.‘ Er sagte: ‚Siehe, Er spricht, es sei eine gelbe Kuh, von hochgelber Farbe, eine Augenweide.‘ Sie sagten: ‚Bitte deinen Herrn für uns, uns zu erklären, wie sie beschaffen sein soll; denn siehe, alle Kühe sind für uns ähnlich. Doch, wenn Allah will, werden wir schon richtig handeln.‘ Er sagte: ‚Siehe, Er sprach, es sei eine Kuh, nicht gefügsam gemacht durch Pflügen der Erde und Bewässern des Ackers; sie sei gesund und ohne jeden Makel.‘ Sie sprachen: ‚Nun kommst du mit der Wahrheit.‘ Hierauf opferten sie die Kuh, doch fast hätten sie es nicht mehr getan. Und als ihr jemand ermordet und über den Mörder gestritten hattet – Doch Allah bringt heraus, was ihr verheimlicht! – da sprachen Wir: ‚Berührt ihn (den Getöteten) mit einem Stück von ihr (der Kuh).‘ So macht Allah die Toten lebendig und zeigt euch seine Zeichen, auf dass ihr begreifen möget. Danach aber verhärteten sich Eure Herzen und wurden zu Stein und noch härter. Aber siehe, es gibt auch Steine, aus denen Bäche entströmen; andere spalten sich und es entströmt ihnen Wasser; andere wiederum stürzen fürwahr aus Furcht vor Allah nieder: Und Allah ist nicht achtlos Eures Tuns.“ (2:67-74)
Diese ist für mich eine der schönsten Erzählungen der zweiten Sure, die insgesamt auch unter dem Namen „Die Kuh“ bekannt ist. Mir erschließen sich die Verse vor dem Hintergrund der christlich-jüdischen Tradition. Das biblische Buch „Debarim“, das wir Christen „Deuteronomium“ (Dtn.) nennen, ist – stark verkürzt dargestellt – ein Gesetzeswerk. Wie wird da das Opfer der Kuh beschrieben?
Der Sühneritus der Kuh in der urbanen Gesellschaft der biblischen Zeit
Die Kapitel Dtn 19 und 21 stehen in engem Bezug zueinander. Es geht in beiden Kapiteln um rechtliche Regelungen zu schwierigen Sonderfällen bei Tötungsdelikten in der urbanen Gesellschaft, bei denen die Beziehungen unterschiedlicher Städte berührt sind.
Konkret geht es in Kapitel 19 tödliche Unfälle bzw. den Fall der fahrlässigen Tötung. Wenn jemand ohne Tötungsabsicht einen Unfall verursacht – Beispiel: beim Holzfällen löst sich der Schaft der Axt vom Stiel und trifft einen anderen Menschen dabe tödlich – so genießt er in den benachbarten Städten Asylrecht, um der Verfolgung durch Verwandte des Getöteten zu entkommen.
Die Grundaussage hier: Es darf kein unschuldiges Blut fließen.
Im zweiten Falle erlischt das Anrecht auf Asyl dann, wenn der Asylsuchende im Streit mit Absicht gemordet hat.
Grundbotschaft: üble Taten fallen auf den Übeltäter selbst zurück und sonst niemanden. Es darf kein unschuldiges Blut fließen.
In den sehr konfliktreichen Verhältnissen konkurrierender Städte darf ein Mord keine Spirale der Gewalt auslösen oder sogar Kriegszüge, sondern eine einmalige gleichartige Strafe soll die Tat sühnen: Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn ist nicht das Gebot der Rache, sondern das Gebot der Mäßigung.
In beiden Fällen geht es nicht nur um individuelle Personen, der Asylfall betrifft letztendlich das Verhältnis zwischen zwei Städten. Und es wird nicht nur das korrekte Vorgehen im Konfliktfall geklärt, sondern auch die Zuständigkeiten. So übergeben etwa die Ältesten der Stadt den fälschlich Asylsuchenden, so wird die Bewertung von Zeugenaussagen und die Rolle von Richtern und Priestern festgelegt.
Im 21. Kapitel wird ein weiterer schwieriger Fall behandelt, der ebenso das Verhältnis benachbarter Städte bedrohen mag. Wird auf dem Felde – also eben nicht in der Stadt – ein Erschlagener gefunden, dessen Mörder nicht bekannt ist, so darf ebenso daraus kein schwerwiegender Konflikt zwischen Städten entstehen. Auch hier wird keine Menschenjagd gestartet, auch hier darf kein unschuldiges Blut vergossen werden. Stattdessen wird ein Sühneritus initiiert, der die Vergeltung beendet. Die Stadt, die als nächste am Fundort der Leiche liegt, übernimmt in Vertretung des Mörders die Verantwortung, anstelle des Mörders wird eine Jungkuh getötet. Es handelt sich hier nicht um ein Opfer, sondern eine Tötung der Kuh durch Genickbruch seitens der Stadtältesten, obgleich auch hier Priester und Leviten ein Segensgebet durchführen und mögliche Konflikte beenden: „und nach ihrem Ausspruch gehe jede Streitsache und jeder Schaden.“ (Dtn. 21, 5)
Auge um Auge, Zahn um Zahn
„Und du sollst das Böse hinwegschaffen aus deiner Mitte. Die übrigen aber sollen hören und fürchten und ferner nicht mehr solches Böse tun in deiner Mitte Und nicht soll dein Auge sich härmen: Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß.“ (Dtn. 19, 19-21)
Es ist ein sehr geläufiges Missverständnis, die Kurzformel „Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn“ gebiete die Rache. Christen wurden nicht müde, dieser Formel das Gebot der christlichen Nächstenliebe entgegenzustellen, um damit fälschlich die Überlegenheit des Christentums gegenüber dem Judentum und – politisch – des Westens gegenüber dem Osten zu behaupten. Jede Gesellschaft verankert die Sühne für Verbrechenin ihren Gesetzen, und natürlich ist das Anrecht auf Unversehrtheit des Leibes ein hoch zu schätzendes Gut. Unser Strafrecht kennt keinen solchen direkten Ausgleich.
Wer nun aber die biblische Formel aus der Perspektive des heutigen Westeuropäers – aus dem Kontext der Perikope gerissen – hört, dem drängt sich ein falscher Eindruck auf. Dabei steht explizite und völlig unmissverständlich der Ansatz dieser Ausgleichsregelung in der Schrift selbst.
Es geht überhaupt nicht um Rache. Dieses Wort ist nicht einmal erwähnt. „ Du sollst das Böse wegschaffen aus deiner Mitte.„, nur darum geht es. Man muss sich die damaligen Städte als losen Verbund vorstellen, innerhalb dessen es keine staatliche Gewalt gibt, die die Gesetze von Seiten einer Regierung durchsetzen kann. Jede Stadt hat ihre Gremien – das sind im wesentlichen die Stadtältesten, die Priester und die Richter – mit ihren jeweiligen Kompetenzen und Aufgaben.
Da braucht es ein Gesetz, das von allen akzeptiert wird und das zugleich generationsübergreifende Blutfehden zwischen Städten oder Familien verhindert. Das Böse – eine singuläre böse Tat, etwa ein Mord – muss durch einen singulären Ausgleich ein Ende finden und darf daraufhin – und schon gar nicht städtisch sanktioniert – in einer Spirale der Gewalt seine Fortsetzung finden.
„Auge um Auge“ ist kein Gebot zur Rache. Vielmehr gilt auch hier der Grundsatz: kein unschuldiges Blut!
„Auge um Auge“ ist die Grenze, die der Rachsucht entgegengesetzt wird:
Wenn dein Herz kocht, weil dir oder deiner Familie ein Unrecht zugefügt wurde,
wenn du den Übeltäter findest und Genugtuung durchsetzen willst,
wenn nichts dich davon abhalten kann,
dann wisse: die Grenze, die du nicht überschreiten darfst, heißt „Auge um Auge“.
Die Angehörigen des Übeltäters müssen diese Rache akzeptieren und dürfen nicht wiederum Rache nehmen, wenn aber Du darüber hinaus gehst, dann begehst Du ebenso ein Verbrechen.
Hätte sich der christliche Westen 1914 an das Gebot „Leben um Leben“ nach dem Attentat am Österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz-Ferdinand gebunden gefühlt, dann hätte es vielleicht – wie geschehen – Todesurteile gegeben – das wäre schlimm genug – oder es wäre einer Kuh das Genick gebrochen worden. Aber möglicherweise wäre erst gar nicht zum Ausbruch des 1. Weltkrieges gekommen? – Kein unschuldiges Blut!
So erhellt der Koran die israelitische Rechtsvorschrift
Gerade in Mordfällen kochen die Emotionen hoch: verzweifelte und rachsüchtige Verwandte, alte Konflikte, die wieder hochkommen, ggf. zu falschen Verdächtigungen führen. Vielleicht verschieben sich auch Machtverhältnisse. Das Ritual der Kuh verlangt Mäßigung. Sehr schön im Koran die Beschreibung der Kuh: nicht zu jung, nicht zu alt, im mittleren Alter. Das steht für die Mitte, die Mäßigung.
Die Grundbotschaft fasst der Koran noch einmal richtig lebensnah zusammen:
Emotionen kochen hoch, Herzen verhärten, werden zu Stein, ja, noch härter. Das liegt in der Natur der Sache. Aber die Kuh bietet einen Ausweg, und für Gott ist nichts unmöglich. Es gibt Steine, denen entströmen Bäche, sie teilen sich, und ihnen entströmt Wasser. Gott macht, so der Abschluss, die Toten lebendig. Und damit ist nicht der Ermordete gemeint, sondern der kleine Tod, den all diejenigen erlitten haben, denen der Ermordete lieb und teuer war.
Das Sühneritual fordert, dass die Ältesten der betroffenen Stadt bekennen: „‚Unsere Hände haben dieses Blut nicht vergossen und unsere Augen haben es nicht gesehen. Gewähre Sühne Deinem Volk Jisra’el, das Du, o Ewiger, erlöst hast und lass nicht unschuldig Blut sein inmitten Deines Volkes Jisra’el!‘ Und so wird ihnen das Blut gesühnt werden.“ (Dtn. 21, 8) – Dadurch kommen die Betroffenen zusammen, und erkennen Gott wiederum als ihre gemeinsame Mitte an. Und so kann der Koran den optimistische Ausblick geben, „andere wiederum stürzen fürwahr aus Furcht vor Allah nieder: Und Allah ist nicht achtlos Eures Tuns.“ (2:74)