In der islamischen Tradition gilt der Koran als wortwörtlich offenbart. Der Prophet verkündet nicht nur die Worte, sondern vokabelgenau sogar die Wörter, die er vom Erzengel Gabriel empfing. Als christlicher Theologe kann und wollte ich diese sogenannte „Verbalinspiration“ für die Bibel nicht in Anspruch nehmen.
Unterschiedlichste Menschen mit unterschiedlichsten Anliegen sind als Verfasser der biblischen Bücher bekannt. Sogar bei einzelnen Perikopen (Bibelstellen) kann die Forschung eine ganze Reihe von Autoren nachweisen, die die Erzählung verfasst, ergänzt, weiterentwickelt und mit anderen Bibelquellen verwoben haben. Und Theologen verheimlichen dies nicht, sondern die biblische Theologie erforscht die biblische Tradition und findet laufend neue Nuancen, laufend neue Autoren und Redaktoren, die Einfluss auf die Bibel nahmen, die „mitschrieben“.
Und dennoch: wenn ich in der Kirche die Lesung vortrage, beende ich dies mit dem Ruf: „Wort des lebendigen Gottes“. Wort Gottes? Wo es doch so offensichtlich das Wort ganz vieler Menschen ist. Wie kann man sich das vorstellen?
Ich beneide die Muslime ein wenig um die Einheitlichkeit des Koran. Einheitlich? – Ehrlich gesagt gibt es schon einige gegenläufige Tendenzen, aber in sich kann man von einer deutlich größeren Einheitlichkeit mit deutlich geringeren Brüchen ausgehen, als in der Bibel offensichtlich ist. Ist es nicht immer wieder die Frage der Muslime an die Christen: wie könnt Ihr von Gottes Wort sprechen, wenn ganz eindeutig so viele Menschen mitsprechen? (wird fortgesetzt)