Für unser Brot auf dem Tisch danken wir Gott beim Tischgebet. Er gibt unseren Feldern genügend Sonne und Regen, lässt das Getreide wachsen und ernährt uns durch seine Gaben und unsere Arbeit. Niemand würde hinterfragen: „Wieso danken wir eigentlich Gott? – Lasst uns doch lieber dem Bäcker danken.“ Obgleich – er hat das Mehl gemischt, den Teig angesetzt, geknetet, ihn in Form gebracht und letztendlich ganz eigenständig entschieden, dass dies nun zum Beispiel ein Laugen- und kein Sonnenblumenkernbrötchen wurde – und das durch sein Können möglich gemacht. Also: genügt denn nicht eigentlich ganz ihm der Dank?
Ganz ähnlich verhält es sich mit unserem Verständnis der Heiligen Schrift. Gott offenbart sich einigen wenigen Menschen. Dies geschieht für uns Christen aber nicht, indem er ihnen Sätze diktiert, die sie nur niederzuschreiben hätten. Gottes Sprache ist für uns keine verbal vermittelte. Es sind vielmehr Gotteserfahrungen, die eben nicht in Worte zu fassen sind, weil sie Erfahrungen des Unbegrenzten sind. Und da unsere Sprache, wie wir zuvor sahen, nur das geschöpfliche erfassen kann, wird diese Erfahrung in allzu menschliche Worte geprägt. Und deshalb ist eben unsere Heilige Schrift in sich nicht kohärent, sondern beinhaltet auch und besonders die zeitlichen Gegebenheiten, die Lebens- und politischen Situationen der Autoren und Redaktoren und sehr vieles „menschliche“ mehr. Und deshalb genügt es eben nicht, einfach nur wortgetreu die Bibel zu verstehen oder gar – wie es auch geschieht – als „Tatsachenbericht“, sondern vor dem Hintergrund „Gotteswort in Menschenwort“.
Dies ist freilich eine ganz besondere Herausforderung, der wir uns stellen müssen: wie ist diese Heilige Schrift zu interpretieren? Wie lassen sich die geschichtlichen und die Gotteserfahrungen der Menschen auf unsere Situation übertragen? Und wir wissen, dass auch unsere Schlüsse lediglich Bilder einer Wirklichkeit sind, die durch Worte nicht zu erfassen ist.
Im Koran finde ich diese Unmöglichkeit, das Wesen Gottes tatsächlich in Sprache zu fassen (ihn quasi dort zu verhaften, zu bannen, zu binden) – und sei es die Sprache der Heiligen Schrift – nun auch deutlich formuliert:
„Sprich: ‚Wäre das Meer Tinte für die Worte meines Herrn, wahrlich, das Meer wäre erschöpft, bevor die Worte meines Herrn versiegen, selbst wenn wir noch einmal soviel Meer dazubrächten.’ “ (19:109) – „Und wenn alle Bäume auf Erden Schreibfedern wären und das Meer (Tinte) und das Meer hernach von sieben Meeren nachgefüllt würde: Allahs Worte würden nicht erschöpft! Siehe, Allah ist mächtig und weise.“ (31, 27)
Es ist wohl kaum ein logistisches Problem angesprochen, bei dem es um die Beschaffung einer noch größeren Menge an Tinte geht. Vielmehr zeigt mir diese Stelle: der himmlische Qur’an, – er ist das Urbild des offenbarten Qur’an, – der das Wesen Gottes in seiner ganzen Wirklichkeit beschreibt (vgl. „Der Hundertste Name Gottes“), ist in menschlicher Sprache nicht vermittelbar, da alle Tinte der Welt, alle Wörter der Welt und unser im endlichen verhaftetes Denken nicht ausreichen, die Wirklichkeit Gottes als solche zu erfassen.
Der Wahre, der wirkliche Qur’an, liegt jenseits der Grenzen unserer Erfahrung und unserer begrenzten Möglichkeiten, zu verstehen.
Aber: Gott offenbart uns eine Abschrift, „… in arabischer Sprache vorgetragen …“ (12:2), damit wir ein wenig vom Glanz seiner Wirklichkeit erfahren können. Oder, wie in unserer Bibel der Apostel Paulus so treffend sagt: Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse. Dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen. Dann aber werde ich durch und durch erkennen, wie ich durch und durch erkannt worden bin.“ (1 Kor 12)
Der Glanz der Wirklichkeit Gottes ist uns nicht gänzlich verborgen: er strahlt schon in unsere Wirklichkeit hinein: Gott gibt uns in unseren Heiligen Schriften Rechtleitung und – ja – Wegweisung nicht nur für unser Leben unter Menschen, sondern auch und vor allem Wegweisung für unsere Gottessuche.
Jörg c