Der Schlüssel (2:98-112)

O ihr, die ihr glaubt! Sprecht nicht: ‚Favorisiere uns!‘, sondern sprecht: ‚Schau auf uns!‘, und gehorcht (…).“ (2:104)

Wir haben gesehen: wer von der Offenbarung spricht, läuft Gefahr, die falschen Engel zu predigen. Und das nicht unbedingt aus bösem Willen heraus, sondern auch schlichtweg aus Unwissenheit. „Und fürwahr, für Schlimmes verkauften sie ihre Seelen. O, dass sie es nur wüssten!“ (2:102)

Was ist aber nun legitime Rede über die Offenbarung, und was ist falsche Rede?

Zwei Hinweise haben wir im vorangegangenen Absatz bereits erhalten: Zauberei und das, „womit man Zwietracht zwischen Mann und Frau stiftet“ (2:102), wobei offen ist, ob „Mann und Frau“ bedeutet: Zwietracht zwischen den Menschen oder ob konkret Zwietracht zwischen z. B. Eheleuten gemeint ist.

Dies ist aber noch sehr unkonkret, und die Mahnung, keine Zwietracht zu säen mag hilfreich sein, angesichts der Komplexität zwischenmenschlicher Konflikte jedoch praktisch kaum Hilfe.

Der Koran wäre wohl nicht der Koran, wenn er nicht unmittelbar im Kontext dieses Abschnitts den Schlüssel klar und unmissverständlich böte.

Wann verkehrt sich die Lehre des Koran also ins Gegenteil, was sind ‚aufgehobene Verse‘, und wann liegt ein rechtes Verständnis vor? „O ihr, die ihr glaubt! Sprecht nicht: ‚Favorisiere uns!‘, sondern sprecht: ‚Schau auf uns!‘, und gehorcht (…).“ (2:104)

Sprecht nicht: ‚Favorisiere uns!‘“ (2:104)

In der Schulzeit sagte mal ein Mitschüler zu mir: „Christen sind nicht besser, sie haben es besser!“ – Gemeint war die Gewissheit eines zukünftigen Platzes im Himmelreich.

Allein für Privilegien Christ zu sein ist der falsche Weg, weil dieses Denken in seiner Wurzel egozentrisch, wenn nicht gar egoistisch ist.

Als Jesus von seinen eifrigen Jüngern gefragt wurde, wer im Himmelreich (von ihnen) der größte sei, da „rief er ein Kind herbei, stellte es in ihre Mitte und sagte: Amen, das sage ich euch: Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen. Wer so klein sein kann wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Größte.“ (Mt 18, 1-5)

Genau dies ist auch das Selbstbild des Glaubenden im Koran. Nicht meine Position, meine Privilegien, die Tatsache, dass ich in die verheißenen Gärten einziehe, ist wichtig, auch nicht meine Leistung, sondern dass – ganz schlicht – Gott auf mich schaut.

Konkret: Wenn junge Leute für politische Zwecke gewonnen werden, unter dem Versprechen, dass nach ihrem Tod Gärten für sie bereitet seien, der greift ein Bild des Koran – die Gärten – auf und vermischt es mit den Zielen seiner eigenen Dämonen. Diese Jagd auf Menschen entlarvt sich in der Grundhaltung: niemand, weder Verführer noch Verführte, tun irgendetwas aus dem Geist „Schau auf uns!“ heraus, sondern ausschließlich aus dem Geiste: „Favorisiere uns!“ Der Attentäter, der heute eine Gruppe unschuldiger mit sich in den Tod gerissen hat, tat dies in der Erwartung, nun, nach dem Tod, Gutem zu begegnen. „Favorisiere uns!“ war wohl seine Motivation. Er, ein Verführter und einer unter denen, denen man zuruft: „Hätten sie das doch gewusst!“ (2:103) Die Verführer in ihrer Suche nach Macht, ebenso unter dem Banner „Favorisiere uns!“ Ihnen geht es in zweiter Linie nur um eine Herrschaft Gottes; zunächst geht es ihnen wohl um die eigene Position innerhalb dieser. Sie sind es, von denen gesagt wird: „Von ihnen lernte man, womit man Zwietracht zwischen Mann und Frau stiftet.“

Kreuzzüge, Diktaturen, Hetze gegen „andere“, Kolonialisierungen: die Räderwerke der Grundhaltung „Favorisiere uns!“ funktionieren in allen Kulturen, Religionen und Gesellschaften.

Schau auf uns!“ (2:104)

In meiner damaligen Heimatstadt, Aachen, fand 1986 der Katholikentag statt. Dort begegnete ich in einem Forum „Geistliche Berufung“ Priestern und Mönchen, die über ihre besondere Berufung referierten. Ein Benediktinermönch sagte da sinngemäß: „Es heißt, unsere Berufung misszuverstehen, wenn wir Ordensleute und Priester als die besseren Christen dastünden. Menschen, die unseren Weg nicht gehen, sind ebensogute Christen, wie wir. Glauben Sie mal nicht, dass wir bei Gott in höherem Ansehen stünden, als irgendein anderer Mensch. Ich begreife unsere Aufgabe als eine Aufgabe, einen besonderen Dienst, der uns, wie es dem Begriff Dienst entspricht, zu Dienern macht. Vielleicht haben wir Theologen und Kirchenmänner viel über Gott gelernt, üben uns täglich im Gebet, versuchen, unser Leben an Gott auszurichten. Und dennoch: ein ganz einfacher Mensch, der ganz schlicht die Ahnung hat, dass es Gott vielleicht gibt, und ein kleines Gebet von Herzen an Gott richtet: er mag Ihm näher sein, als wir es je waren.“

Für Leistung gibt es Privilegien. Gott will aber keine Leistung. „Schau auf uns!“ Das ist die Grundhaltung des Christen. und ebenso – das beschreibt der Koran unzweideutig – des Muslims.

Privilegien vergeben Könige, Herrscher und vielleicht der Chef im Unternehmen. „Schau darauf, was ich getan habe! Und zahle mir den Erfolg aus!“, sagt der, der abhängig von der Gunst ebendieser ist.

„Schau auf mich!“ sagt dagegen der Liebende. „Sieh mich an!“: das ist der Beginn einer Liebesgeschichte, und ebenso wie das Christentum ist dies auch der Islam: eine Liebesgeschichte des Menschen mit Gott.

Die drei Abrahmischen Religionen sind Religionen der Liebe. „Sieh mich an!“ ist die Forderung eines Liebenden. Im Artikel „Religion der Liebe“ schrieb ich: Die „Liebe scheint durchgängig im Koran durch“.

Oft werden Koranstellen im Diskurs auf schwierige Inhalte hin besprochen; in Bezug auf 2:98 ff. wird so getan, als gehe es darum, Koranstellen als „aufgehoben“ zu erklären. Die eigentliche Tiefe der Aussage geht in diesen Diskursen verloren; das Eigentliche wird von Beiläufigem überdeckt.


Demut im Gebet: 'Schau auf uns!' - Gottesdienst in der türkischen Moschee, Berlin 1931. Quelle: Bundesarchiv, Bild 102-11243 / CC-BY-SA 3.0


Demut im Gebet: ‚Schau auf uns!‘ – Gottesdienst in der türkischen Moschee, Berlin 1931. Quelle: Bundesarchiv, Bild 102-11243 / CC-BY-SA 3.0


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