„… welche die Schrift selbst schreiben“ (2:75-86)

Wünscht Ihr, dass sie euch Glauben schenken? Aber ein Teil von ihnen hat Allahs Wort vernommen und verstanden und hernach wissentlich verdreht. Wenn sie den Gläubigen begegnen, so behaupten sie: ‚Wir glauben!‘ Wenn sie jedoch allein unter sich sind, sagen sie: ‚Wollt Ihr ihnen erzählen, was Allah euch offenbarte, damit sie es eines Tages vor eurem Herrn im Streit gegen euch verwenden? Seid ihr von Sinnen?‘ Wissen sie nicht, dass Allah weiß, was sie verheimlichen und was sie offen tun? Unter ihnen gibt es auch Ungelehrte, welche die Schrift nicht kennen, sondern nur Wunschvorstellungen und Vermutungen haben. Aber wehe jenen, welche die Schrift selbst schreiben, dann aber sagen: ‚Dies ist von Allah!‘ und das für einen winzigen Preis. Wehe ihnen dessentwegen, was ihre Hände geschrieben haben und wehe ihnen wegen ihres Gewinns!“ (2:75-79)

Zunächst steht hier vordergründig der Vorwurf im Raum, die Offenbarung, die Schrift der Leute des Buches, sei verfälscht worden. Ist aber die Verfälschung des Wortes Gottes tatsächlich die Stoßrichtung, in die diese Verse zielen? Ein genauer Blick auf die Verse zeigt, dass das nicht der Fall sein kann.

Vordergründig geht es um die Zeit des Mose: die Verse schließen direkt an die Begebenheit mit der Kuh (Verhärtete Herzen und Steine …) an. Bis Vers 74 sind mit „sie“ das Volk, zu dem Mose sprach (Vers 67) gemeint. Und da die Tora dem Mose zugeschrieben wurde – sie sind uns ja auch als die „5 Bücher des Mose“ bekannt – würde eine solche Interpretation irgendwie passen. Und vielleicht mag dieser Gedanke auch eine Rolle spielen. Darauf bin ich an anderer Stelle schon umfassend eingegangen (Gottes Wort).

Dass diese plagiative Verfälschung des Wortes Gottes aber nicht im Zentrum der Verse steht, zeigen zwei Indizien deutlich.

Zunächst einmal findet in Vers 75 ein „Adressatenwechsel“ statt: „Wollt ihr, dass sie euch glauben schenken? Aber ein Teil von ihnen hat Allahs Wort verstanden und hernach wissentlich verdreht.“ (2:75)

Nicht die Zeitgenossen des Mose sind angesprochen, sondern Menschen, die der Botschaft der Gläubigen folgen, also Zeitgenossen des Propheten und die späteren Generationen. Die Schriften der „Leute des Buchs“ sind längst verfasst. Völlig eindeutig muss eine andere Art der Verfälschung des Wortes Gottes gemeint sein.

Der zweite Hinweis: in den auf Vers 75 folgenden Versen geht es nur in den ersten Zeilen um das Thema der Verfälschung der Schrift. In den folgenden Versen geht es um die Sünde allgemein, den Erwerb übler Dinge oder Eigenschaften, Unglaube, Gotteslästerung, Mord, Raub, Vertreibung Gefangener.

Die Gegenfolie dazu ist die Heilige Schrift selbst: die Versprechen des Volkes, die es nicht und nicht und nicht einhält. Darum wird wiederholt das Versprechen der Gläubigen (Juden) memoriert. Und der Anspruch mit der Fehlbarkeit der Menschen verglichen. Es geht um die durch Gottes Wort verbürgten Grundgebote des Glaubens, wie sie in den 10 Gebote, die Moses dem Volk offenbart, expliziert sind. Und um die Grundhaltung, die letztlich im Gebot der Liebe mündet: der Liebe zu Gott und der Liebe zu den Menschen.

Gott selbst offenbart die Grundgebote des Glaubens: Mose empfängt die zehn Gebote, Mosaik im Katharinenkloster (Sinai), 6. Jahrhundert


Gott selbst offenbart die Grundgebote des Glaubens:
Mose empfängt die zehn Gebote
Mosaik im Katharinenkloster (Sinai), 6. Jahrhundert
Foto: Public Domain; Quelle: Wikipedia, www.icon-art.info/…


Und damit wird deutlich, welches der Vorwurf dieser Verse ist: nicht die Schrift ist falsch, sondern diese Schrift ‚hernach wissentlich zu verdrehen‘ (2:75), durch ‚ihre Hände‘ zu schreiben (2:79). Wie kann man sich das vorstellen?

Die Heilige Schrift kann nur allzu leicht missbraucht werden, um von ihrer eigentlichen Botschaft abzulenken. Will ich beispielsweise aggressives kriegerisches Verhalten decken, so gelingt mir das gut mit der Bibel. Passende Perikopen finde ich. Und wenn ich dann die zentralen Grundaussagen, die auf nur wenigen Seiten kompakt zusammengefasst sind, ausblende oder „weich“ interpretiere, finde ich Rechtfertigung für böse Übeltaten. Genau das ist aber ein „Umschreiben“, Verfälschen der Schrift.

Gottes Wort für die eigenen Untaten zu instrumentalisieren: das ist das Vorgehen der Unruhestifter. Wieder begegnet uns der Typus des Menschen, der „Allah“ im Munde und seine eigenen Dämonen im Herzen führt. Zu Beginn der Sure als Inbegriff des Ungläubigen genannt, nun tritt er wieder in Erscheinung. Versteckt er sich zu Beginn der Sure unter den Muslimen, so versteckt er sich hier nun unter den jüdischen Gläubigen (die in diesem Fall gegebenenfalls auch für die Christen und Sabäer stehen).

Das Entscheidende: es ist im Text selbst explizite bezeugt, dass es hier nicht darum geht, die Schrift als solche als verfälscht darzustellen. Vielmehr werden die Verschleierungsmechanismen benannt und verurteilt: „Wenn sie den Gläubigen begegnen, so behaupten sie: ‚Wir glauben!‘ Wenn sie jedoch allein unter sich sind, sagen sie: ‚Wollt Ihr ihnen erzählen, was Allah euch offenbarte, damit sie es eines Tages vor Eurem Herrn im Streit gegen euch verwenden? Seid ihr von Sinnen?‘“. (2:76) Nicht die Schriften an sich, sondern eine falsche Predigt der Schriften wird verurteilt.

Man muss auch den Kontext dieser Zeilen beachten: es geht in dieser zweiten Sure um das Verhältnis zwischen den Gläubigen der drei Religionen: um Offenbarung, „Rechtleitung“ (ethische Aspekte) und das Verhältnis der Heiligen Schriften zueinander. Darauf komme ich noch in einem späteren Beitrag zu sprechen. An dieser Stelle ist aber dies festzuhalten:

Es ist eine Erfahrung, die viele wohl machen, dass zahlreiche Menschen oft genug ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden, unter den eigenen Freunden, Landsleuten und im Kontext der eigenen Religion. Aus Fehlentwicklungen zu lernen ist eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen des zwischenmenschlichen Miteinanders schlechthin. In diesem Sinne ist es absolut legitim und hilfreich, auch fremde Gruppen in den Blick zu nehmen. Fehlentwicklungen auch hier dürfen und sollten benannt werden, um, neben einem Programm für richtiges Verhalten, auch die Gefahren und Fallstricke menschlichen Handelns zu kennen. Es geht nicht darum, andere herabzusetzen. Vielmehr geht es darum, wachsam zu sein, wenn Entwicklungen in den eigenen Reihen in die falsche Richtung gehen: als „Rechtleitung für die Gläubigen“ (2:1), als ‚warnendes Beispiel für die Mit- und Nachwelt‘ und ‚Lehre für die Gottesfürchtigen‘ (2:66). Die Kritik zielt also in ihrem gesamten Ansatz nach innen und nicht nach außen. Thema ist der Weg des Gläubigen mit Gott, wie es programmatisch die Fatiha vorgibt.

Vor diesem Hintergrund kann ich im nächsten Beitrag nun eine erste kleine Annäherung an das zentrale Gebet des Islam, al-Fatiha, Sure 1, wagen.

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